Wie wir von älteren Generationen lernen können, dass es im Leben keine Generalproben gibt

Diesen Text, der auf einem Artikel über meinen Opa aus 2018 basiert, habe ich für den Podcast "Der 8. Tag" von The Pioneer mit Diana Kinnert geschrieben. Hier geht's zur Episode (Spotify).

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Guten Tag. Mein Name ist Till Oltmanns. Ich bin 25 Jahre alt und finde, dass wir Jungen mehr von den älteren Generationen lernen müssen.

Ich bin Teil einer Generation, die mehr Chancen und Freiheiten hat, als je zuvor. Wir müssen nach der Schule nicht zum Bund oder Zivildienst, sondern machen ein Gap Year. Können uns frei entscheiden, wie wir unser Leben gestalten und welchen Beruf wir ausüben möchten. Uns steht die Welt offen und wir hören von allen Seiten, dass wir alles werden, alles erreichen können. Wir haben viele Chancen - aber wissen nicht, was wir damit machen sollen, weil wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen und das macht uns Druck. Bei Instagram sehen wir ständig, wie scheinbar jeder diese Chancen nutzt und ein total aufregendes Leben führt, während uns unser eigenes Leben meistens so gar nicht aufregend vorkommt. Wir vergleichen uns mit der ganzen Welt und das überfordert uns.

Was wir haben, ist Freiheit. Was uns fehlt, ist die Orientierung, um sie zu nutzen.

Meine These ist, dass wir diese Orientierung finden können, wenn wir mehr und vor allem anders mit älteren Generationen sprechen und von ihnen lernen. Insbesondere was unseren Blick auf die Zeit und wie wir sie nutzen angeht. Wie komme ich darauf?

Ich bin Mitgründer von Afilio. Ein Startup, mit dem wir das Thema “Vorsorge” digital abbilden und somit einfach und zugänglich machen. Das kann man sich so vorstellen: Vor Afilio musste man zum Anwalt oder Notar gehen, um Dokumente wie die Patientenverfügung oder eine Vollmacht zu verfassen. Das kostet Geld, ist aufwändig und man muss das bei jeder Änderung erneut machen. Um Versicherungen zu regeln, muss man mit Vertretern sprechen - dem Beruf mit dem geringsten sozialen Ansehen. Und wenn in der Familie etwas passiert, z.B. ein Pflege- oder Todesfall eintritt, dann steht man trotzdem alleine da. Mit Afilio ist das anders. Man kann bei uns all diese Themen an einem Ort regeln - mit einfachen Erklärungen und komplett digital. Wir haben mittlerweile über 2.000.000 Nutzer und da ist von der 20 jährigen Berufseinsteigerin bis zum 100 jährigen Testamentsverfasser alles dabei. 

Ich habe daher viel Kontakt zu älteren Menschen und habe dadurch gelernt, wie wichtig ihre Erfahrungen für meine Generation sind. 

Das wurde mir noch einmal verdeutlicht, als ich vor Kurzem das Buch “Diese ganze Scheiße mit der Zeit” von Hubertus Meyer-Burckhardt, dem Gastgeber der NDR Talk Show, las. Er bekommt eine plötzliche Krebsdiagnose und schreibt mit Sprüchen wie “Du hast zwei Leben. Das zweite beginnt wenn Du begreifst, dass Du nur eines hast” darüber, wie sich dadurch sein Blick auf das Leben verändert hat. Über einen Absatz habe ich seitdem oft nachgedacht. Er schreibt: “Wegen Shaw (so nennt er sein Karzinom) fiel mir plötzlich Peter Ustinov ein, der wohl erkannt hatte, dass sich ab einem gewissen Alter das, was man für die Generalprobe gehalten hat, schon als die Vorstellung herausstellt. Und genau darüber könnte ich in der Tat manchmal heulen, über meine Unfähigkeit in jüngeren Jahren, die Zeit, die vor mir lag, so zu würdigen, wie sie es verdient hätte. Als ich jung war, hatte ich kein Geld, aber Zeit. Nun ist es umgekehrt.”

Seitdem ich diesen Absatz gelesen habe, frage ich mich, was wäre, wenn jeder Mensch mit Anfang 20 dieses Gefühl versteht. Da reicht es nicht, den Absatz zu lesen. Man muss mit den Menschen sprechen, die diese Erfahrung gemacht haben. Mit älteren Menschen. Viele von ihnen bedauern am Ende ihres Lebens, die Zeit nicht richtig genutzt zu haben. Sie hatten Wünsche und Träume, die sie nie verwirklicht haben. Das liegt nicht unbedingt an fehlendem Mut, sondern vor allem daran, dass sie die Zukunft falsch eingeschätzt haben. In einem kleineren Ausmaß passiert das auch schon in früheren Lebensphasen. Man mag ja darüber schmunzeln, dass man vielleicht einmal dachte, die Wahl der Leistungskurse würde die Karriere bestimmen. Aber egal, ob man in der Schule ist und sich denkt “Nach dem Abi geht es richtig los”, oder, ob man in den ersten Job startet und hofft, dass es nach zwei Jahren besser wird. Man wartet immer darauf, dass noch etwas kommt und auf einmal sind 10 Jahre vorbei. Soviel zum Thema Generalprobe. 

Aber nicht nur von ernsthaft erkrankten Fernsehmoderatoren können wir lernen. Ab einem gewissen Alter hat jeder Mensch ganz besondere Erfahrungen gesammelt, die uns bei unseren eigenen Herausforderungen Orientierung geben können. In meinem Leben war das vor allem mein Großvater. Er war zwar immer ein Vorbild für mich, vor allem aber gab es zwischen uns nicht diese Distanz, die es oft zwischen alten und jungen Menschen gibt. Manchmal erlebe ich es bei Freunden, dass sie sich ganz anders verhalten, wenn sie mit älteren sprechen. Da verändert sich die Stimmlange, sie sitzen ganz gerade, sind übertrieben freundlich und grinsen so doof. “Hallo Frau Müller, wie geht es Ihnen Frau Müller, was macht die Hüfte Frau Müller?” Da kann natürlich kein tiefgründiges Gespräch entstehen. So war das bei meinem Opa und mir nie. Wir waren trotz des großen Altersunterschieds vor allem in den letzten Jahren seines Lebens einfach beste Freunde und haben uns auch genauso unterhalten. Ich möchte hier darüber sprechen, was ich von ihm gelernt habe und fange ganz hinten an: Bei den letzten Stunden seines Lebens. 

Mit fast 94 Jahren war mein Opa Kuddel auf dem Sterbebett der glücklichste Mann im Raum. Es war der Vorabend seines Geburtstages und er wollte seine „Gäste“ nicht enttäuschen. Außerdem hatte er in seinem Leben größere Herausforderungen gemeistert, als dass Sterben ihm die Stimmung vermiesen könnte.

Sein Vater starb, als er noch ein Kind war. Die Schule brach er ab und folgte seinen älteren Freunden unbesonnen in die Hitlerjugend. Um, wie er sagte, „etwas in der Hand zu haben“, absolvierte er rechtzeitig vor Kriegsbeginn eine kaufmännische Lehre. Zur Abschlussprüfung erschien er bereits in Uniform.

Vor einigen Jahren zog ich nach Berlin, in die Nähe der Kastanienallee. Im selben Alter, während des Endkampfes in Berlin 1945, kämpfte er sich an dieser Stelle durch die russischen Linien, um aus Berlin zu fliehen und der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Erschöpft ist er bei einer Rast in den Wäldern am Rande Berlins eingeschlafen und wurde von seinen Kameraden zurückgelassen. Das war sein großes Glück, wie er sagt. Auf sich alleine gestellt war die Chance, erwischt zu werden, geringer. Er machte sich auf einen dreimonatigen Fußmarsch nach Hamburg, seiner Heimatstadt und orientierte sich dabei an der Sonne. Daran muss ich denken, wenn ich mich mit meinem iPhone in der Hand verlaufe.

In Hamburg angekommen hatte er die Wahl zwischen drei Berufen: Maler, Dachdecker oder Tischler. Er entschied sich dazu, auf den Dächern Hamburgs seinen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. Noch in seinen letzten Jahren, inzwischen fast erblindet, konnte er mir auf gemeinsamen Ausflügen durch Hamburg immer genau sagen, auf welchen Dächern er gearbeitet hat.

Die Zeit als Dachdecker währte nicht lange. Es gab kaum Nahrungsmittel, erst Recht kein Fleisch. Bekannte von Kuddel kamen auf die Idee, einen stehenden Frachtzug aufzubrechen, um ein Paar Kisten Trockenfleisch zu ergattern. Kuddel musste Schmiere stehen. Einige Wochen später stand die Polizei vor der Wohnung seiner Mutter, dort lebte er zur Zeit. Auf dem Dachboden fanden sie die noch fast volle Kiste Trockenfleisch und für Kuddel ging es für acht Monate hinter Gitter. Als er mir die Geschichte erzählte, bereute er, das Fleisch nicht eher verputzt zu haben. Es war für ihn so wertvoll, dass er sich jeden Tag nur ein kleines Stück genehmigte. Außerdem plagte ihn ein schlechtes Gewissen und er war beinahe froh, dass er davon bereinigt wurde. Weniger froh war er über die Tatsache, dass er die nächsten Monate im Gefängnis verbringen musste. Das war jedoch besser, als die russische Kriegsgefangenschaft.

70 Jahre später sitze ich an seinem Sterbebett. Man sagt, dass Menschen in Todesnähe ihr Leben Revue passieren lassen. Daher war ich gespannt, was er uns sagen würde, als er tief Luft holte und seine Kraft zusammennahm, um uns eine Botschaft mit auf den Weg zu geben. Es folgte... ein Witz. Und was für einer. Es ging um den Penisvergleich zwischen einem Jungen und einem Pferd. Ich frage mich, was in diesen letzten Stunden in seinem Kopf vorging, dass er sich von all den Dingen, die er hätte sagen können, für einen anzüglichen Witz entschied. Nichts hätte uns mehr gezeigt, dass er mit sich und der Welt im Reinen war.

Als ich einige Tage später meine Rede für seine Bestattung schreibe, frage ich mich, ob ich jemals so zufrieden, gelassen, dankbar und gleichzeitig diszipliniert und willensstark wie Kuddel sein werde. Schließlich waren seine einzigartigen Eigenschaften ein Ergebnis der harten Zeiten, durch die er sich kämpfen musste. Das ist bei mir anders, denn vergleichbare Herausforderungen gibt und gab es für mich nicht. Das gilt, zumindest in Deutschland, für einen Großteil meiner Generation. Im Alter, in dem Kuddel 3 Monate lang durch den Dreck nach Hause kroch, in der Lebensphase, in der er im Gefängnis war, weil Trockenfleisch so wertvoll war, um dafür ein “Verbrechen” zu begehen, sorgen wir uns um Fitness und Lifestyle und sind damit besorgt, “uns selbst zu finden”. Wir bekommen nicht nur Midlife- sondern auch Quarterlife-Crisis und Burnout im Studium.

Statt Krieg, Hunger und Ungewissheit haben wir Probleme damit, morgens aufzustehen und abends einzuschlafen, sind oft gereizt aber selten erschöpft, weil wir nicht hart arbeiten und das auch nicht müssen. Wir wurden beschützt und verschont, das hat uns vieles erspart. Doch bezahlen wir jetzt dafür mit dem Gefühl, verloren zu sein. Wir sind die erste Generation in Deutschland, die ohne die Folgen eines Kriegs oder schwerwiegenden Konflikts aufwächst und nach dem Schulabschluss nicht zum Bund oder Zivildienst muss. Wir sind die Ersten, die wirkliche Freiheit haben - und leiden darunter zunehmend.

Wir stellen uns Sinnfragen, die sich vor einigen Jahrzehnten kein 20-Jähriger gestellt hätte. Identitätskrisen, Unsicherheit und Unzufriedenheit sind die Folge. Wir sind wie gelähmt und können das Potential, das Freiheit mit sich bringt, weder ausschöpfen, noch genießen.

Kuddel konnte das, denn er musste sich seine Freiheiten erst verdienen.

Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mir ein so guter Lehrer war und bin mir sicher: wenn meine Enkelkinder einmal so über mich denken, wie ich über ihn, dann ist alles gut. Bis dahin ist es noch ein langer - und mit Mitte 20 - unklarer Weg. Die Sicherheit und Ruhe, die Erwachsene aus Sicht eines Kindes ausstrahlen, entpuppen sich mit der Zeit als immer stärker bröckelnde Fassade und es scheint, als würde es den Zustand, den Kinder als “erwachsen” wahrnehmen, gar nicht geben.

In Momenten der Orientierungslosigkeit  suche ich nach Weisheit, Regeln und Prinzipien und finde sie immer wieder unerwartet in Kuddels Leben.

Es geht mir nicht darum, „alles“ richtig zu machen. Auch Kuddel hatte viele Fehler. Mein Ziel ist es, unabhängig von Leid, Niederlagen und Enttäuschung mit einem breiten Grinsen durchs Leben zu gehen, mich selbst nicht so ernst zu nehmen, hart zu arbeiten und mein privilegiertes Leben wertzuschätzen - wie mein Opa es mir beigebracht hat.

Jetzt hat natürlich nicht jeder einen Opa Kuddel. Zum Glück ist das auch gar nicht notwendig. Wenn wir dafür offen sind, ergeben sich mit der Zeit viele Gelegenheiten, älteren Menschen die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Aber warum findet dieser Austausch so wenig statt? Ich denke, dass es da eine unnötige Barriere zwischen den Generationen gibt. Aus Sicht der Älteren kann ich das nicht beurteilen, aber aus Sicht der Jüngeren gibt es ein Bild von “den Alten”, das meiner Ansicht nach falsch ist und Distanz schafft. In meinen Gesprächen ist mir eines klar geworden:

Den Zustand, den man in jungen Jahren als “alt” wahrnimmt, gibt es nicht. Auch alte Menschen fühlen sich nicht alt. Sie sind nicht abgeklärt und stehen nicht unbedingt mit beiden Beinen im Leben. Sie zweifeln genau so wie wir, haben Ängste und Sorgen, Ziele und Pläne. Aber sie haben einige Lebenskrisen erfolgreich gemeistert und können uns dabei helfen, einen anderen Blick auf die Dinge zu gewinnen - wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen und sie ehrlich um Rat fragen. 

Also: Nimm ältere Menschen nicht als grundlegend anders wahr. Betrachte sie als interessante Gesprächspartner, von denen Du viel lernen kannst. Stelle ihnen Fragen, die Du auch Deinen Freunden stellen würdest. Und denk daran, dass das, was Du für die Generalprobe hältst, schon die Vorstellung ist.

August 2021